Tool Tales 03: Weinkrämpfe & Windows 3.1

Anfang der 90er habe ich Softwareschulungen gegeben beim Landesamt Für Datenverarbeitung Und Statistik, unter anderem (neben, Steinzeitmenschen werden sich erinnern, Novell GroupWise und WordPerfect) Word Kurse für Menschen, die noch nie an einem Computer gesessen hatten. Hochqualifizierte Menschen: Finanzbeamte, Buchprüfer, die auf einmal ihre Arbeit – die „Außenprüfung“, die Prüfung der Buchhaltunsgunterlagen bei größeren Firmen im Haus – auf einem Laptop erledigen mußten, der ihren gewohnten Workflow ersetzen sollte. Der ging so, bitte anschnallen: 

Handschriftliche Berichte verfassen – die ins Finanzamt schicken oder Faxen – dort werden sie von Schreibkräften abgetippt – dann ins Amt an den Außenprüfer zur Korrektur zurückgeschickt oder gefaxt – dann vom Außenprüfer korrigiert – wieder zurückgeschickt – dann im Finanzamt finalisiert – Und erst dann werden sie als Bescheid dem Unternehmen zugestellt. 

Da war also einiges drin an Optimierungspotenzial, auch für die armen, in  diesem workflow gefangenen Menschen selbst. Die Leute waren gar nicht doof, lediglich ihr workflow war aus heutiger Perspektive komplett kafkaesk. Was hätte da näher gelegen, als diesen Irrsinn mithilfe von Software & ein bisschen Hardware zu optimieren?

Und dann habe ich in meinen Kursen tatsächlich gestandene, erwachsene Menschen weinen sehen, no kiddin, bei der plötzlichen Realisation, daß sie mit einem komplett neuen workflow konfrontiert wurden, und daß es für sie keinen Schritt zurück geben würde. Und das nicht bei besonders raffinierten selbstgeschriebenen Makros, sondern bei dem Weg vom Einschalten des Rechners bis zum Öffnen eines leeren Worddokuments in Windows 3.1. 

Die Tränen hätten zugegebenermaßen auch meinem besonderen pädagogischen Talent geschuldet sein können, aber ich glaube, daß auch der SCHOCK* eine Rolle spielte, den die erste Konfrontation mit neuer Hardware, neuer Software und entsprechend einem neuen Workflow ausgelöst hat, und das alles gleichzeitig, und dann auch noch überbracht von einem leicht nerdigen Germanistik-Studenten im schlechtsitzenden 2nd Hand Cord-Sakko.

Seitdem weiß ich, wie existenziell die Tools sein können, die wir Leuten an die Hand geben. Ich erinnere mich noch, wie schwer es mir gefallen ist, das Gefühl existenzieller Bedrohtheit nachzuvollziehen, das meine armen Finanzbeamten in den Klauen hielt – „Weinen wegen Word?“ – aber im Rückblick ist mir das schon eine deutliche Warnung vor Cord-Sakkos und davor, Leuten leichtfertig Software zuzumuten, ohne sich das komplette Biotop drumherum genau angeschaut zu haben, zumindest aber eine Mahnung, möglichst viel Sensibilität & Nutzer-Orientierung walten zu lassen.

*Wenn man diesen SCHOCK nachzuvollziehen versucht, muß man sich nur mal die tollen Text-To-Video Musikvideos von FUNCUNCLE anschauen und sich vorstellen, man sei Pianist, und kurz vor dem Live-Auftritt in der ElbPhilharmonie bekäme man eine dieser irren Musikmaschinen hingestellt mit der Ansage: „So, und das ist jetzt dein neues Piano“. Oder man ist gezwungen, sein nächstes Angebot in diesem grausig unübersichtlichen und viel zu detaillierten Südafrikanischen Kalkulations-Fomular zu erstellen. Hab ich mal 1 Jahr lang gemacht, war zäh jewesen.

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