Mein Musikvideo-Menetekel

Full disclosure: ich habe die 90er erlebt. Beweise? Ich dachte schon Ihr würdet nie fragen. Aber Achtung, es ist 90er Jahre Fachwissen zum Dechiffrieren erforderlich! Saß ich einmal mit Herbert Grönemeyer beim Abendessen und erzählte davon, wie ich im Pott geboren wäre und mein alter Herr Bergmann gelernt hätte. Herbert darauf im Ton eines Menschen, der Überraschendes verkündet: „Also ich komme ja aus Bochum“. Große Stille am Tisch – wer sagt jetzt als erster „Echt?“ Na, zündets? Dauert ein bißchen, ich weiß. Okay, Anekdote zu Ende.

Ich habe jedenfalls nicht nur Herbert Grönemeyer, sondern auch ein mittelmäßig komplexes Business Modell erlebt, das Anfang der 2000er komplett untergegangen ist: Die Organisation der Musikvideo-Herstellung nach dem Vorbild der Werbefilmindustrie. Als unsere Kunden – die großen Labels, die diese zarte Industrie zu 100% finanziert hatten – so um 2000 herum mit einem Mal & gleichzeitig herausgefunden haben, dass sie die Investitionen in Musikvideos (erst recht vor dem Hintergrund der temporären Umsatzrückgänge in Zeiten von Napster & Co) nicht mehr einspielen konnten, haben sie ihre Ausgaben dafür radikal runtergefahren & damit die Musikvideo-Produktionslandschaft als Sandkastenkopie der Werbefilmlandschaft quasi ausradiert. Details für Zu-Spät-Kommer finden sich im immer noch zu weiten Teilen meiner Feder entstammenden WIKIPEDIA-Eintrag zum Thema „Musikvideo“.

Ich habe tatsächlich mehr Beweise dafür als zweifelhafte Anekdoten mit lokalen Popstars. Jaja, liebe Gen Z, Herbert Grönemeyer war mal ein lokaler Popstar, und wenn ihr nicht aufhört ungläubig zu gucken, dann zwinge ich Euch, die unter dem * angefügte Anekdote auch noch zu lesen und Euch dazu 1 Stunde lang MAMBO NO. 5 anzuhören. Ich kann jedenfalls aus eigener Anschauung von einer Firma berichten, die mit rund 20 festen Mitarbeitern – okay, Praktikantinnenquote 50% – rund 50 Musikvideos im Jahr produziert hat, keine 30-Sekünder, meine Lieben: im Schnitt 3,5-Minüter, und die damit einen Jahresumsatz hingelegt hat, der sie im Werbefilmranking unter die Top 20 gebracht hätte.

Heute dagegen haben Musikvideos mit wenigen Ausnahmen 4-stellige Budgets, aber immer noch 3 Minuten Laufzeit. Die technischen & handwerklichen & damit auch die kaufmännischen Komplexitäten sind ebenfalls derart geschrumpft, dass sie sich zumeist in einem One Man Show Setup bewältigen lassen. Regie, Kamera, Edit & Produktion werden oft genug in Personalunion gestemmt. Für „Capital Bra rappt in der leeren Tiefgarage“ braucht es keine Produktionsfirma. Bottom line: massive Reduktion, ja, geradezu Zusammenbruch („Collapse to Simplicity“, Clay Shirky) des zuvor wenn auch nur für kurze Zeit bestehenden Business Modells Musikvideoproduktionsfirma.

Der entscheidende Punkt dabei: Es gibt noch Videos. Viele Videos. Viele miese, aber auch weiterhin viele gute Videos (was nicht vertuschen soll, dass es auch davor viiiiele miese Videos gegeben hat, ich habe selbst diverse davon produziert). Oder, aus Perspektive der Auftraggeber: „Siehste, geht doch!“

Woraus sich natürlich die Frage ergibt: Ist das Zerbröseln des Business Modells „Musikvideo-Produktion“ aus den 90ern ein Menetekel für die Werbefilmbranche? Anders gefragt, werden Kunden wie VW, NIVEA oder HEINEKEN in 15 Jahren auch sagenwirmal 50% ihrer Marketingausgaben für Bewegtbild einsparen, die Geschäfte laufen trotzdem prächtig, und alle CMOs klatschen sich ab und sagen heimlich oder laut und deutlich triumphierend: „Siehste, geht doch?“

Ein Faktor, der beim Zusammenbruch der Musikvideolandschaft entscheidend war, gilt in der Werbung thank goodness nicht: die Musikvideolandschaft wurde und wird von gerade mal 4 Playern (den großen Labels) bestimmt, die relativ gleichzeitig und konzertiert ihr Verhalten umstellen können, und die das Anfang 2000 einfach gemacht haben – ob konzertiert oder zufällig gleichzeitig ist für das Ergebnis unerheblich. Das ist beim ungleich größeren Werbefilmmarkt nicht so. Die Konkurrenz unter den Kunden ist größer, und die Tendenz aus allen Rohren zu feuern ebenfalls. Das heißt: Die Gefahr besteht weniger darin, daß unsere Kunden kollektiv den Geldhahn für Bewegtbild zudrehen.

Was aber können die Kunden und wir aus diesem Musikvideosterben – Schockmoment lernen? Schauen wir zur Abwechslung bei Clay Shirky rein:

Als Shirky einen Vortrag hielt vor einer Gruppe von TV-Executives über den Wandel, den das Internet für ihr klassisches Geschäftsmodell bedeuten würde, kristallisierte sich eine Frage heraus: „Wann würde Online-Video genug Geld einbringen, um ihre laufenden Kosten zu decken?“

Was hat Shirky den TV-Leuten gesagt? (Übersetzungen/Kürzungen von mir):

In Zukunft werden einige Arten von Bewegtbild für’s Web genauso komplex produziert werden, wie es heute bei eurem Business der Fall ist, und einige Leute werden zweifellos truckloads of money damit verdienen.

Es mag verlockend sein, sich vorzustellen, daß, wenn die Dinge früher komplex waren und auch in Zukunft komplex sein werden, daß dann in der Zwischenzeit alles einfach komplex bleiben kann. SO FUNKTIONERT DAS ABER LEIDER NICHT.

Warum? Die meistgesehene Videominute der Jahre 2005 – 2010 zeigt, wie Baby Charlie seinem Bruder in den Finger beißt. Zweimal! Diese Minute wurde von mehr Menschen gesehen als die Zuschauerzahlen von American Idol, Dancing With The Stars und dem Superbowl zusammen.

Einige Videos müssen heute immer noch komplex sein, um Wert zu haben, aber die Logik des alten Medien-Ökosystems, in dem Bewegtbild komplex sein musste, nur um überhaupt Bewegtbild zu sein, ist schlicht zerbrochen. Eine Welt, in der „Charlie bit my finger“ passieren kann, ist eine Welt, in der Komplexität weder eine notwendige Bedingung noch ein automatischer Vorteil ist.

Unsere Werbefilmfuzzi-Frage an die Zukunft ließe sich analog zu der von Shirkys TV-Leuten vielleicht so formulieren: „Oha, Kunden wollen immer weniger klassischen TVC Content haben. Werden wir es schaffen, sie davon zu überzeugen, dass der neue Yotube Insta TikTok Content zu denselben hochkomplexen und damit teuren Konditionen hergestellt werden muss wie ein TVC?“

Die Gefahr liegt auch da in der Fragestellung, weil sie nahelegt, daß wir nichts anderes können, als unser gelerntes Geschäftsgebaren auf neue Businesses zu übertragen. Wenn das wirklich alles ist, haben/bekommen wir ein Problem.

Was nämlich, um die Kurve zum Intro zu kriegen, die Musik-Labels gelernt haben schon Anfang dieses Jahrhunderts: Ihre Kommunikationsziele im Bereich Bewegtbild lassen sich mit geschätzt maximal dem halben (andere sagen: einem viertel…) Budget realisieren dessen, was da in den fetten 90er Jahren rausgeblasen worden ist. Das könnten die Kunden in unserem Bereich auch irgendwann herausfinden trotz aller Bemühungen von Agenturen und Produktionsfirmen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

„Brace, brace“, wie man in der Luftfahrt sagt: Stellen wir uns also besser darauf ein, dass immer mehr Kommunikations-Ziele unserer Kunden mit immer kleinerem Aufwand realisiert werden können. Überlegen wir uns, ob & wie wir da mitmachen wollen, oder ob wir uns bei steigendem Meeresspiegel auf eine immer kleinere Insel zurückziehen wollen mit immer härteren Verteilungskämpfen um das weniger werdende, bewohnbare Land. Und behalten wir im Auge wo es Sinn macht, unsere gelernten Produktionsstandards auf neue Content Anforderungen zu übertragen (und umgekehrt), und wo nicht.

*Die Strafanekdote für 90er Nachsitzen-Müsser: Im ständigen, heroischen Abwehrkampf gegen den permanenten Kundenwunsch nach so viel nudity wie irgendwie MTV-möglich sitzen wir in einem Meeting für das Konzept des Lou Bega Musikvideos zu Mambo No. 5, und der Regisseur versucht grade, alle davon zu überzeugen, dass Erotik ja auch was ganz Subtiles sein könne, so in der Art wie jemand einen Espresso trinkt etwa, nur um vom Kunden unterbrochen zu werden mit einer klaren Definition: „Pass mal auf, Erotik heißt bei mir Bikinis aus Zahnseide, ich hoffe das ist angekommen.“

Okay, ich habe nicht versprochen, daß es eine LUSTIGE Anekdote wird, oder?

Location, Location, Location

Man kann mit Recht sagen, daß das Monument Valley nur ein Stapel Steine wäre ohne John Ford’s Pioniertat, seine größten Filme dort zu drehen. Aber auch John Ford mußte auf Director’s Recce und das Tal für sich und für uns entdecken. Als er in den 30ern für „THE SEARCHERS“ mit seinem DP Winton C. Hoch dort war, ließen sie sich von einem ehrfurchtgebietenden Native American namens Hastobiga führen, von dem sie erwarteten, dass er ihnen als Local die spektakulärsten Locations zeigen würde – schließlich lebten die Navajo seit undenklichen Zeiten hier, und das Valley war ihnen heilig und zutiefst vertraut. Hastobiga ging jeweils voran und stellte die Kamera ab – dann ließ er John Ford und Winton C. Hoch das Valley durch den Sucher betrachten. Von Tag zu Tag wuchs die Verwunderung der beiden Filmprofis darüber, mit welch filmischem Auge der Mann die besten Kamerapositionen aussuchte, bis Winton C. Hoch nicht mehr anders konnte als zu fragen: „How do you always know that this is the best place to put my camera?“ Hastobiga antwortete schulterzuckend: „Because that’s where they always put it”.

Ist natürlich lustig; aber der entscheidende Moment ist gar nicht Teil der wahrscheinlich komplett frei erfundenen Story: Was macht John Ford als nächstes? Akzeptiert er, daß das die beste Location für seinen Film ist und dazu noch, daß das der beste Ort ist, die Location zu featuren, WEIL DAS ALLE IMMER SO MACHEN – oder sucht er was Anderes, was Fresheres, was Besseres; vielleicht in Chile, weil da MetroGoldwynMeyer grade gedreht haben soll? Oder spielt John Ford vielleicht in der Geschichte gar nicht erst mit, weil er alle Monument Valley Filme schon gesehen hat und weiß daß die Location schon ganz schön abgefrühstückt ist, der Chapman’s Peak Drive des wilden Westens sozusagen, und sucht von vornherein schon was ganz anderes? Studio? Unreal Engine?

Ich kann Euch nicht sagen, wie John Ford tickt. Ich kann Euch aber verraten an welchen Enden des Möglichkeitsspektrums sich ein Producer und ein Agentur-Kreativer relativ wahrscheinlich regelmäßig aufhalten: Wer sagt öfter: „Autofilm, urban und mit sehenswertem Umland? Da fällt mir Lissabon ein.“ Und wer: „Das soll zwar ein Autofilm mit modernen urbanen Elementen und mit ein paar Fahrszenen im Umland sein (SUV!! Die Szene, in der sich das Auto, über Land fahrend, der Silhouette einer modernen Großstadt nähert!!)), aber in Lissabon hab ich schon jede Brücke viermal gedreht, habt ihr da nicht mal eine ganz andere, freshe Idee?“ Mögliche Antworten bitte unten in die Kommentarzeile!

Ich warte ja die ganze Zeit schon darauf, daß sich endlich mal jemand Kasachstan wünscht. Ich kenn da was total Freshes, bißchen doof grade mit den vermaledeiten Russen in der Nachbarschaft, aber die Zeit wird kommen, wartet’s nur ab! Bin übrigens neulich in Südafrika nur so aus Trotz mal wieder selbst über den Chapman’s Peak Drive gefahren und kann Skeptikern & Nachwuchs, die vom Chapman’s Peak Drive nur wissen, daß der eigentlich immer gesperrt ist, berichten: ist grade geöffnet und sieht ganz geil aus, vor allem wenn man so die Kombi aus Meer und Bergen hat und dann im Hintergrund sich so die Stadt aufbaut… hmmm… vielleicht für einen SUV Film mal vorschlagen demnächst?

funky funky: Sozialabgaben

Eine Kölner Freundin hat es gewagt, einem Berliner Copyshop Mitarbeiter, der sie auf die übliche miese Berliner Muffeltour behandelte, zu sagen: „Hömma, du bist hier im Service, Liebschen!“ Ergebnis: Hausverbot im Copyshop.

Ich bin zu hundert Prozent auf Seiten des Rheinlandes in dieser Sache, zumal die Sozialstandards für Copyshopmitarbeiter in Köln und Berlin grob dieselben sein sollten. Das basic mindset der durchschnittlichen Berliner Service Fachkraft scheint aber immer noch zu sein: „Wenn ich mich schon zwingen lasse, diesen Job zu machen, dann laß ich wenigstens meine schlechte Laune gegenüber allem & jedem raushängen.“ Aber das sind ja nur kulturelle Oberflächenphänomene einer im Grunde genommen sehr durchregulierten und komfortablen Arbeitswelt, ripples auf einem Ozean des Kommoden, zumal in unserer Branche (Ja ich weiß, nicht immer und nicht für alle, lest trotzdem gern mal weiter…). Aber wie sieht das so aus, wenn wir unsere Jobs ins Ausland tragen?

Traditionellerweise kostet Production Service in Portugal rund 10-15% weniger als in Barcelona. Warum?  Neulich sagte ein Producer aus Barcelona, den ich fragte, was denn derselbe Film seiner Meinung nach in Lissabon kosten würde: „Nimm einfach mein Budget und zieh die Sozialabgaben ab*.“

Und tatsächlich, das kommt ganz gut hin. In Spanien sind die Preise hochgegangen vor ein paar Jahren, als die Spanischen Serviceproduktionsfirmen zähneknirschend angefangen haben, wegen neuer gesetzlicher Auflagen auch Sozialabgaben zu bezahlen und an uns weiter zu berechnen. Als dann ihre Kunden – wir – verstärkt nach Portugal abgewandert sind, weil da die Preise noch niedriger waren (read: keine Sozialabgaben gezahlt wurden), haben einige von ihnen Offices in Lissabon aufgemacht, damit sie von dieser Abwanderung profitieren konnten. Ist damit die Service Industrie in Spanien den Bach runtergegangen?

Ratet mal warum keiner von uns jemals freiwillig in Frankreich dreht:

  1. Weil’s da so häßlich ist?
  2. Weil die Franzosen keinen Geschmack haben?
  3. Weil es keine Business Infrastruktur gibt?
  4. Weil das viel zu weit weg ist?

Nö, nö, nö & nö. Die Antwort findet sich –  wie übrigens alle wichtigen Antworten – in Excel. Schaut mal auf diese Formel, die ich jüngst noch in einem Kostenvoranschlag aus Frankreich gefunden habe, um die Sozialabgaben zu berechnen: =(SUMBN4-BN19)*65%. FÜNF-UND-SECHZIG Prozent Sozialabgaben! Das ist schlicht prohibitiv teuer für ein Business, dessen Kosten zu einem massiven Teil aus Personalkosten bestehen. Will sagen: In Frankreich dreht keiner, weil die Sozialabgaben, und damit die Personalkosten insgesamt zu hoch sind.

Deutlicher ist der umgekehrte Effekt natürlich noch im ehemaligen Ostblock: unser Business ist ein sehr personalintensives Business, während die verwendete Technik überall gleich und damit auch tendenziell gleich teuer ist. In den 90ern sind wir nach Budapest und Prag gegangen. Als deren Preise irgendwann keinen Vorteil mehr gegenüber einer Produktion zuhause geboten haben – circa 2010?? – sind wir kollektiv weitergezogen Richtung Osten nach Rumänien in die Baltics… vor der verfluchten russischen Invasion in das top notch Serviceland Ukraine haben alle angefangen, ihre Fühler nach Kasachstan und Georgien auszustrecken. Warum wohl? Weil’s da so tolle Locations gibt? Bestimmt auch. Aber vor allem wegen der günstigen Manpower natürlich.

Wenn, random example, der Oberbeleuchter in Bukarest mit 180 Euro ohne weitere Sozialabgaben nicht mal ein Drittel von dem verdient, was sein deutsches Pendant bekommt, dann kann man sich unschwer ausrechnen was das für eine Ersparnis bedeutet im Gesamtbudget: Ein Drittel Personalkosten, da kommen pro Drehtag schnell ein paar zehntausend Euro zusammen, was schlicht bedeutet: wenn es keinen Grund gibt, NICHT in Rumänien zu drehen (wie: „Wir wollen mediterrane Locations“), dann dreht man in Rumänien. Oder in Vilnius. Oder Ljubljana.

Aber.

Aber fühlt sich das nicht irgendwie Scheiße an, wenn man seinen Kunden, unter ihnen Milliardenkonzerne mit Milliarden Jahresgewinnen, regelmäßig Dienstleistungen hinterherwirft, deren Realisierbarkeit zu einem entscheidenden Teil beruht auf Billigstarbeit und auf nicht bezahlten Sozialabgaben, die die Leute aus ihren eh schon mageren Salären mal schön selbst bestreiten können?

Keine Sorge, hier kommen ein paar Ausreden:

Man muß da kein Sozialist sein und gleich „Ausbeutung“ trompeten – die gezahlten Rates sind für die Locals immer noch attraktiv im Vergleich zu den sonst erzielbaren Einnahmen im Land.

Unsere Kunden machen ja dasselbe wenn sie beispielsweise Ihre Luxuskarossen im Osten zusammenschrauben lassen anstatt im Lohnhochland Deutschland.

Unsere Konkurrenz wird es genau so anbieten, wenn wir’s nicht machen. Es kriegt schlicht derjenige den Job, der’s zu diesen Konditionen anbietet, hilft also keinem, wenn wir’s nicht machen, gemacht wird es trotzdem.

Kurz: wir können uns nicht leisten, andere Standards zu bezahlen als Kunden oder Mitbewerber.

Niemand will crazy aufgeblasene Sozialsysteme wie in Frankreich subventionieren, das finde ich komplett nachvollziehbar.

Niemand will eine überregulierte, overstaffte und als unerbetene Dreingabe eine von der eigenen Überlegenheit grundlos überzeugte Produktionslandschaft wie in den USA finanzieren müssen, deren Drehtage schnell das Doppelte kosten wie bei uns, ohne daß man das Gefühl hätte, daß man dafür irgendeine handfeste Mehrleistung bekäme („Arri Alexa? Wow! Wait, where did you get that great piece of technology from?“). Auch das komplett nachvollziehbar.

Dafür wäre ja vielleicht mal die EU ganz nützlich, die regulieren doch sonst auch jeden Furz & Feuerstein, warum eigentlich regelt die EU nicht, daß die Arbeitsnebenkosten gewissen Mindeststandards genügen müssen, damit nicht jeder rumänische Griphelfer die Rentenabgaben aus seinen 80 Euro Tagesgage bestreiten muß? Schon da werden einige schreien „THE HORROR, THE HORROR“, um mal Colonel Kurtz zu zitieren, auch der ja gewissermaßen nur ein Producer auf einem sehr schwierigen Servicejob, aber würd‘s wirklich wen umbringen? Anders als durch Regulation läßt sich da sicher nix ändern, siehe die validen Ausreden oben.

Fragte man die Kunden, dann würden die sich hinter ihren 300-seitigen Lieferverträgen verstecken (Producer-Faustregel: je größer der Konzern, desto länger & unverschämter die Lieferverträge), in denen sie sicherstellen, daß sie zu hundert Prozent sauber da raus kommen. Wir garantieren denen natürlich jedes Mal, daß wir sämtliche gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitsstandards einhalten, die lokal gültigen, wohlgemerkt, und für jeden Verstoß selbst gradestehen und haften. Und das nicht, weil sie das wirklich interessiert, sondern damit ihnen keiner an den Karren fahren kann.

Pheeew, fünf tiptop Ausreden! Aber wie ein befreundeter Producer gern zu jeder passenden Gelegenheit sagt: „Excuses are like assholes. Everybody’s got one, and they all stink“. Ja, da stehn wir jetzt mit unserem kurzen Hemd und wissen nicht weiter. Ihr etwa? Sachdienliche Hinweise bitte gern in die Kommentarspalte.

*Sozialabgaben: Vom Arbeitgeber zu zahlende Lohnnebenleistungen für Rente, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung etc. https://www.hellogetsafe.com/de-de/posts/sozialabgaben-was-ist-das-und-wofuer-bezahle-ich-da-eigentlich

Elektroautos, Digitalkameras und der „Siehste, geht doch!“ – Effekt

Systeme wie die der Werbefilmproduktion haben die Tendenz, immer komplexer zu werden, bis als einzige Option zur Vereinfachung nur noch der Totalkollaps („Collapse to Simplicity“, Clay Shirky) bleibt. Das sollten wir alle im Blick behalten, und wir müssen alle täglich dagegen anarbeiten, damit wir nicht irgendwann wie das Römische Reich an unseren selbstaufgehäuften Byzantinismen ersticken.

Ich hör schon, das ist Euch zu akademisch? Dann eben Elektroautos, genauer: der Schritt vom Verbrennungs-Motoren zu Elektro-Motoren. Damit kommen wir Werbefilmer als Dienstleister ja ständig in Kontakt, ohne zu sehen, wie ähnlich da die Kundenprobleme den unseren sind. Denn obwohl sich das so nach Upgrade, nach Fortschritt anhört, ist dieser Schritt nämlich vor allem erstmal ein Downgrade in Sachen Komplexität. Warum? Du brauchst ein paar 1000 Teile um einen Verbrennungsmotor herzustellen, aber nur ein paar 100 Teile um einen Elektromotor herzustellen. Übersetzt in Manpower bedeutet das: der Stromer benötigt zur Herstellung gerade einmal die Hälfte des Verbrenners.

Das ist der Grund, warum sich Volkswagen jahrelang massiv gegen die Umstellung auf Elektro gewehrt hat: weil die zu einem erheblichen Teil Mitarbeiter-bestimmt sind, und deshalb bis in die Konzernstruktur hinein von der Komplexität des Verbrennungsmotors profitieren, weil man dafür eben viele Menschen = Arbeitsplätze braucht.

Am Ende kommt auch bei der weit weniger komplexen Geschichte ein sehr zeitgemäßes Ding heraus, das die Menschen von A nach B fährt, und potenziell Millionen Kunden, denen man jahrzehntelang erzählt hat „Neineinnein, das geht nicht, das muß genau so wie wir das immer gemacht haben, wir sind die Experten, trust us“, die kaufen dann doch ein deutlich weniger komplexes Elektroauto, wenn’s ganz doof läuft auch noch bei Tesla, und sagen: „SIEHSTE, GEHT DOCH!“**

Und die Industrie so? Statt auf die weniger komplexe Variante „Stromer“ umzusteigen, sind sie lieber jahrelang in die entgegengesetzte Richtung galoppiert und haben stattdessen Komplexität HINZUADDIERT, indem sie Hybridfahrzeuge promotet haben, also quasi die neue Lösung auf die alte aufgepfropft, statt sie zu ersetzen. „Schautmal, wir machen einfach unseren alten Stiefel weiter, und wir addieren aber den Elektromotor hinzu, weil wir nur das eine können: komplexer werden.“ Ein irrer Move eigentlich! Als wenn man am Ende des 19. Jahrhunderts Benzinmotoren in Pferdekutschen eingebaut hätte, ohne die Pferde auszuspannen.

Uff, sehr weit ausgeholt, aber jetzt krieg ich die Kurve. Stell dir vor, wir Werbefilmer hätten vor 20 Jahren angesichts der digitalen Revolution dasselbe gemacht, nämlich den Kunden jahrelang erklärt, man müsse weiterhin auf Film, aber eben parallel alles auch digital drehen. Und das koste halt leider so Einiges mehr, aber was soll man machen: Fortschritt halt, Schulterzucken… Ganz so irre waren wir dann doch nicht. Aber wir haben uns jahrelang mit Klauen und Zähnen an das wirklich hochkomplexe analoge Verfahren geklammert, und uns war keine noch so weit hergeholte kreative Begründung zu doof dafür.

Ich hab neulich mal versucht, meinen Kids zu erklären, was wir da früher veranstaltet haben, ich mußte selber lachen dabei: „Okay, da gibt es dieses beschichtete, lichtempfindliche  Material, das mithilfe eines Motors durch die Kamera durchgezogen wird; das wird belichtet, anschließend chemisch behandelt, um es zu entwickeln und DANN erst haben wir es digitalisiert, um damit weiterarbeiten zu können.“ Erwartbar große Augen, berechtigte Gegenfrage: „Warum habt ihr denn nicht gleich digitale Kameras benutzt?“

In dieser Umstiegsphase konnte man tatsächlich die zwei entgegengesetzten attitudes beobachten: Die einen, die sich an den gelernten aufwendigen Prozess geklammert haben „Neeeein! Das ist ein Beauty Film! Den MÜSSEN wir analog drehen!!!“ und die anderen, die sich mit Ganzkörpereinsatz auf die Chancen der neuen Technik geschmissen haben. Legendär immer noch Roberto Rodriguez in der Sache, FILM IS DEAD, der sich als rebel without a crew in die Industrie gedrängelt hat vor allem, indem er sich zu hundert Prozent auf Digital geworfen hat. Ich bin gespannt, wann denn die ganzen Jungkreativen, die jetzt alle UNBEDINGT auf Film drehen müssen, weil das so authentisch/analog/grainy/haptisch (setze hier gern selbst ein Kreativ-Sales-Wort ein) ist, die Nase voll haben werden von dem ganzen Gehampel und wieder zur Alexa greifen, aber hey, was weiß denn ich schon: Ich bin ja mehr so der Excel-Typ.

Und was können wir jetzt denn der Autoindustrie für heiße Tips geben?

  1. Fürchtet euch nicht.
  2. Auch wenn das Innenleben nicht mehr dasselbe ist, das Herz, der technische Kern: die Leute wollen weiterhin Autos haben, und es ist ihnen am Ende egal, wie die angetrieben werden.
  3. Wenn ihr es schlau anstellt, dann werden die Komplexitätsreduktionen beim Antrieb nicht in niedrigere Preise und Umsätze übersetzt; ihr müsst halt diversen Krempel drumherum erfinden & dranflanschen. Wir haben ja auch diverse Extraleistungen entwickelt – „mehr gedrehtes Material, aus dem man Alternativen schneiden und 230 SoMe Edits generieren kann; Viel mehr High Speed? Kein Problem! Dailies abends schon hochladen oder gar parallel am Set schneiden, easy!“ – Das könnt ihr auch.
  4. Damit ist dann auch die Sorge dahin, dass ab jetzt Filme nur noch von einer Person auf dem iPhone gedreht werden oder daß eure Kernkompetenz von Bosch übernommen wird. Unsere Kernkompetenz war ja nie „Film belichten“, sondern Filme machen. Eure Kernkompetenz ist nicht „Benzin verbrennen“, sondern Autos bauen.

**Tesla ist besonders spannend in diesem Zusammenhang: natürlich könnte man jetzt wie ein paar chinesische Hersteller die gesunkene Komplexität in einen kleineren Preis übersetzen und Autos so billig machen wie möglich, weil sie keinen komplexen = teuren Verbrenner-Antriebsstrang mehr brauchen. Das gibt es ja auch. Tesla ist aber augenscheinlich den entgegengesetzten Weg gegangen: die haben jede Menge neuer Leistungen hinzuaddiert (Rundherum Kameras, Autopilot, Softwareupdates über’s Netz etc.), um den Gesamtpreis oben zu halten; damit haben sie die Preisersparnis durch Komplexitätssenkung aufgefangen und sich für weitere Eigenleistungen in die Tasche gesteckt.

Und wann habt ihr den letzten TVC von TESLA gesehen? Hmmm…. Wartet mal… Gar nicht? Das liegt daran, dass Tesla keine Bewegtbildwerbung machen. Die sagenwirmal 5% des Kaufpreises, die andere Hersteller für Werbung rausblasen, behalten sie einfach selbst. Nochmal: PANIKBUTTON DRÜCKEN JETZT! Aber das ist ein anderes Thema.