Tool Tales 02: Das Schweizer Taschenmesser

Als ich vor geraumer Zeit mit Freund M. auf Korsika wandern war, mussten wir für Tage unsere eigene Verpflegung über die Gipfel schleppen – was hätte sich da mehr angeboten als ein ganzer korsischer Schinken? So saßen wir morgens, mittags und abends und säbelten unsere einzige Nahrung von einem immer leichter werdenden Schweinebein herunter, der Freund mit seinem Schweizer Taschenmesser, und ich mit einer Art gigantischer Crocodile-Dundee-Klappmachete. Was nach ein paar Tagen dazu führte, daß Freund M. zu Recht Angst bekam, er würde das Ziel wegen Unterernährung nicht erreichen, weil mein Messer (und ich, natürlich) einfach immer dreimal soviel vom Schinken runtergeschnitten bekam wie er mit seinem mickrigen Schweizermesser. Er hat überlebt, aber er hatte auf die harte Tour eine wichtige Lektion lernen müssen: Schweizer Taschenmesser sind bestimmt eine ganze Menge Sachen, aber sie sind einfach keine guten Messer.

Verwunderlich ist für mich deshalb, daß es das Swiss Army Knife geschafft hat, schlechthin DIE positiv besetzte Metapher zu werden für ein Multi Purpose Tool. Wer immer sie benutzt, unterschlägt damit ja meistens, daß das namensgebende Key Feature zwar mit im Multi Purpose Paket enthalten ist, aber daß es wie alle anderen darin zusammengepferchten Anwendungen weniger taugt als seine Standalone Variante, das Messer.

Wie aber verhält es sich mit unserer Kalkulationssoftware, dem Swiss Army Knife des Producers? Sie ist ja definitiv ein Multi Purpose Tool, weil sie so viele Dinge kann: 

_tausend buchhalterisch wichtige Kostendetails wie KSK, 50A, AGA präzise abbilden. Jetzt auch die Anrechenbarkeit der Catering-Ausgaben für Festangestellte Mitarbeiter:innen, hurrah!

_ein Regie-Treatment kalkulatorisch nachbauen

_einen Gesamtpreis ermitteln

_Überstunden berechnen

_Auslandskosten getrennt von Inlandskosten ausweisen

_eine Preisvorgabe um haargenau 10% überbieten, damit man sich anschließend auf die Preisvorgabe runterhandeln lassen kann

_Eventualitäten wie teurere Flüge abpuffern

_Schlechtwettertagskosten vorab einschätzen

_die Basis eines Angebots bilden

_eine seeeehr vollständige Leistungsbeschreibung ausspucken

_als Kostenüberwachungstool funktionieren

Etc.

Natürlich kann sie auch diverse andere wünschenswerte Sachen nicht: Rechnungen & Mahnungen erstellen z.B., oder Wetterdaten & Wechselkurse abbilden. Zusatzangebote integrieren. Versionenverläufe nachzeichnen.

Welche der vielen Funktionen ist denn nun aber das Crocodile-Dundee-Messer unseres Kalkulationsformulars? Da gibt es bestimmt eine Menge möglicher Antworten, aber hier ist mein shot: Das Messer unseres Kalkulationsformulars ist die Möglichkeit, effizient und präzise eine Regie-Interpretation kostentechnisch abzubilden (…nach den Gepflogenheiten der Producerkunst in der speziellen Ausprägung der jeweiligen Firma vor dem Hintergrund der allgemeinen Auftragslage und der Auftragslage der Firma im Speziellen etc. etc. etc, I know…) 

Wenn man das für sich beantwortet hat, und die Antworten können je nach Nutzerperspektive bestimmt auch anders ausfallen, dann sollte man sich vielleicht als nächstes fragen: 

Ab wann & wodurch wird dieses Key Feature so eingeschränkt und nahezu unbrauchbar wie die mickrige, nicht arretierbare Klinge eines Swiss Army Knifes? Einfach mal so als offene Frage stehen gelassen. Ist ja ein Blog, da geht das.

Natürlich muß ich einräumen, daß Metaphern schnell in die Irre führen, weil sie eben nur Metaphern sind und keine eins-zu-eins Abbildungen der gemeinten Realität. Vielleicht kann ja Software viel mehr Wunderdinge als die Schweizer Taschenmesser-Ingenieure. Vielleicht kann man im Unterschied zur physischen Messerwelt in der deutlich weniger physischen Software-Welt undendlich viele Features hinzuaddieren, ohne daß das namengebende Key Feature dadurch auch nur einen Deut schlechter wird.

Aber.

Tool Tales 01: Software, die Producer produziert

Momentan denke ich viel darüber nach, wie denn eine Software beschaffen sein soll, die Producern beim Produzieren helfen kann. Dabei landet man – ich – schnell dabei, wie man selber angefangen hat, Produktions-Software zu benutzen. 

Der Geschäftsführer, der mich in seine Produktion geholt hat, hatte mir in einem Satz den Unterschied zwischen einem Bidding Producer und einem Line Producer erklärt: „Du mußt für dich entscheiden wer du sein willst: Willst du lieber morgens als erster die Studiotür auf-, und abends als letzter wieder zumachen, oder willst du lieber ein Kalkulationsformular auf- und wieder zumachen?“ Was nicht bedeuten sollte, dass man in dem Laden nicht auf beiden Positionen minimum 16 Stunden am Tag geschackert hätte, aber der Unterschied hat mir trotzdem sehr eingeleuchtet. Ich habe mir im Laufe der Zeit beide Seiten lange & im Detail angeschaut, ohne mich je wirklich für eine entscheiden zu müssen. Aber zunächst habe ich Musikvideos gebiddet was das Zeug hält, und das einfach so und oft eher trotz als mit Unterstützung diverser Mitstreiter, die das entweder selbst schon seit Jahren machten.

„Du willst Producer sein? Du kennst keinen einzigen Beleuchter in Berlin!“ hat sich mal einer bei mir beschwert. Der war eher von der Fraktion „Studiotür“. „Du willst Producer sein? Du weißt noch nichtmal, daß die Beleuchter laden & rückladen, und daß man deswegen die LKW zwei Tage länger als die Drehtage buchen muss?“ Das war mein sog. Herstellungsleiter, den es zutiefst kränkte, dass er a) als studierter Filmproduzent in einer Musikvideobude arbeiten musste, und das auch noch, b) mit Menschen wie mir, die sich anmaßten, zu kalkulieren, ohne dieselbe heilige Ausbildung genossen zu haben. Und der sich deshalb schlicht weigerte, mich beim Kalkulieren zu coachen.

Was aber egal war: Es brauchte nämlich weder Beleuchtertelefonnummern noch LKW-Wissen, um das Bidden zu lernen. Dazu brauchte es nur 1. eine Produktionsfirma, in der viel gebiddet & produziert wurde, 2. Zugang zu den hunderten von Quotes, die auf dem Server rumlagen, und 3. Zugang natürlich zu den entsprechenden, auf dieser Basis entstandenen Werken. In diesen Quotes war genug Weltwissen gespeichert, als daß man Reverse Engeneeren konnte (ich kenne kein deutsches Wort dafür), wie man das entsprechende Musikvideo hergestellt hatte; und nach dem Vergleich von 20 Quotes und 20 Musikvideos konnte man sich selber an ein leeres Formular setzen und ein Script kalkulieren dergestalt, dass es selbst beim schlechtgelaunten Herstellungsleiter durchrutschte, der sämtliche Quotes gegengelesen mußte, bevor sie an die Kunden rausgingen. Quotes ließen sich damit basteln, die dermaßen plausibel waren, dass man sie beim Kunden verkauft bekam. Und, Feuerprobe schlechthin: die dann auch noch in den Händen einer echten Studiotür auf- und wieder zuschließenden Produktionsleiterin ein echtes Musikvideo ergaben.

Man könnte also sagen, dieses Tool – nicht das leere Formular allein natürlich, sondern das in diversen fertigen Quotes gespeicherte Produktionswissen – hatte quasi über Nacht einen Bidding Producer aus mir gemacht, ganz ohne HFF Studium, und ganz ohne Beleuchterkontakte. Good Job, Tool! 

Was ist also nochmal die Frage aller Fragen? 

„Wie gut & selbsterklärend bildet ein Tool die Wirklichkeit ab, die es am Ende erzeugen helfen soll, ohne dabei im Weg zu sein; ohne daß man sich durch Layers und Layers an Politics, an Verwaltung, an verkrustetem Detailquatsch durchkämpfen muß?“ 

Nur dann nämlich bleibt es so zugänglich wie möglich, nur dann ist es in der Lage, neue UserInnen zu empowern, selbst so schnell wie möglich und so gut wie möglich Producer zu werden. Nur dann ist es ein Tool, das Producer produzieren kann.

Ja, vielleicht ist DAS die Frage alles Fragen! Und dann kommen die ganzen anderen.

Tool Tales 03: Weinkrämpfe & Windows 3.1

Anfang der 90er habe ich Softwareschulungen gegeben beim Landesamt Für Datenverarbeitung Und Statistik, unter anderem (neben, Steinzeitmenschen werden sich erinnern, Novell GroupWise und WordPerfect) Word Kurse für Menschen, die noch nie an einem Computer gesessen hatten. Hochqualifizierte Menschen: Finanzbeamte, Buchprüfer, die auf einmal ihre Arbeit – die „Außenprüfung“, die Prüfung der Buchhaltunsgunterlagen bei größeren Firmen im Haus – auf einem Laptop erledigen mußten, der ihren gewohnten Workflow ersetzen sollte. Der ging so, bitte anschnallen: 

Handschriftliche Berichte verfassen – die ins Finanzamt schicken oder Faxen – dort werden sie von Schreibkräften abgetippt – dann ins Amt an den Außenprüfer zur Korrektur zurückgeschickt oder gefaxt – dann vom Außenprüfer korrigiert – wieder zurückgeschickt – dann im Finanzamt finalisiert – Und erst dann werden sie als Bescheid dem Unternehmen zugestellt. 

Da war also einiges drin an Optimierungspotenzial, auch für die armen, in  diesem workflow gefangenen Menschen selbst. Die Leute waren gar nicht doof, lediglich ihr workflow war aus heutiger Perspektive komplett kafkaesk. Was hätte da näher gelegen, als diesen Irrsinn mithilfe von Software & ein bisschen Hardware zu optimieren?

Und dann habe ich in meinen Kursen tatsächlich gestandene, erwachsene Menschen weinen sehen, no kiddin, bei der plötzlichen Realisation, daß sie mit einem komplett neuen workflow konfrontiert wurden, und daß es für sie keinen Schritt zurück geben würde. Und das nicht bei besonders raffinierten selbstgeschriebenen Makros, sondern bei dem Weg vom Einschalten des Rechners bis zum Öffnen eines leeren Worddokuments in Windows 3.1. 

Die Tränen hätten zugegebenermaßen auch meinem besonderen pädagogischen Talent geschuldet sein können, aber ich glaube, daß auch der SCHOCK* eine Rolle spielte, den die erste Konfrontation mit neuer Hardware, neuer Software und entsprechend einem neuen Workflow ausgelöst hat, und das alles gleichzeitig, und dann auch noch überbracht von einem leicht nerdigen Germanistik-Studenten im schlechtsitzenden 2nd Hand Cord-Sakko.

Seitdem weiß ich, wie existenziell die Tools sein können, die wir Leuten an die Hand geben. Ich erinnere mich noch, wie schwer es mir gefallen ist, das Gefühl existenzieller Bedrohtheit nachzuvollziehen, das meine armen Finanzbeamten in den Klauen hielt – „Weinen wegen Word?“ – aber im Rückblick ist mir das schon eine deutliche Warnung vor Cord-Sakkos und davor, Leuten leichtfertig Software zuzumuten, ohne sich das komplette Biotop drumherum genau angeschaut zu haben, zumindest aber eine Mahnung, möglichst viel Sensibilität & Nutzer-Orientierung walten zu lassen.

*Wenn man diesen SCHOCK nachzuvollziehen versucht, muß man sich nur mal die tollen Text-To-Video Musikvideos von FUNCUNCLE anschauen und sich vorstellen, man sei Pianist, und kurz vor dem Live-Auftritt in der ElbPhilharmonie bekäme man eine dieser irren Musikmaschinen hingestellt mit der Ansage: „So, und das ist jetzt dein neues Piano“. Oder man ist gezwungen, sein nächstes Angebot in diesem grausig unübersichtlichen und viel zu detaillierten Südafrikanischen Kalkulations-Fomular zu erstellen. Hab ich mal 1 Jahr lang gemacht, war zäh jewesen.