Elektroautos, Digitalkameras und der „Siehste, geht doch!“ – Effekt

Systeme wie die der Werbefilmproduktion haben die Tendenz, immer komplexer zu werden, bis als einzige Option zur Vereinfachung nur noch der Totalkollaps („Collapse to Simplicity“, Clay Shirky) bleibt. Das sollten wir alle im Blick behalten, und wir müssen alle täglich dagegen anarbeiten, damit wir nicht irgendwann wie das Römische Reich an unseren selbstaufgehäuften Byzantinismen ersticken.

Ich hör schon, das ist Euch zu akademisch? Dann eben Elektroautos, genauer: der Schritt vom Verbrennungs-Motoren zu Elektro-Motoren. Damit kommen wir Werbefilmer als Dienstleister ja ständig in Kontakt, ohne zu sehen, wie ähnlich da die Kundenprobleme den unseren sind. Denn obwohl sich das so nach Upgrade, nach Fortschritt anhört, ist dieser Schritt nämlich vor allem erstmal ein Downgrade in Sachen Komplexität. Warum? Du brauchst ein paar 1000 Teile um einen Verbrennungsmotor herzustellen, aber nur ein paar 100 Teile um einen Elektromotor herzustellen. Übersetzt in Manpower bedeutet das: der Stromer benötigt zur Herstellung gerade einmal die Hälfte des Verbrenners.

Das ist der Grund, warum sich Volkswagen jahrelang massiv gegen die Umstellung auf Elektro gewehrt hat: weil die zu einem erheblichen Teil Mitarbeiter-bestimmt sind, und deshalb bis in die Konzernstruktur hinein von der Komplexität des Verbrennungsmotors profitieren, weil man dafür eben viele Menschen = Arbeitsplätze braucht.

Am Ende kommt auch bei der weit weniger komplexen Geschichte ein sehr zeitgemäßes Ding heraus, das die Menschen von A nach B fährt, und potenziell Millionen Kunden, denen man jahrzehntelang erzählt hat „Neineinnein, das geht nicht, das muß genau so wie wir das immer gemacht haben, wir sind die Experten, trust us“, die kaufen dann doch ein deutlich weniger komplexes Elektroauto, wenn’s ganz doof läuft auch noch bei Tesla, und sagen: „SIEHSTE, GEHT DOCH!“**

Und die Industrie so? Statt auf die weniger komplexe Variante „Stromer“ umzusteigen, sind sie lieber jahrelang in die entgegengesetzte Richtung galoppiert und haben stattdessen Komplexität HINZUADDIERT, indem sie Hybridfahrzeuge promotet haben, also quasi die neue Lösung auf die alte aufgepfropft, statt sie zu ersetzen. „Schautmal, wir machen einfach unseren alten Stiefel weiter, und wir addieren aber den Elektromotor hinzu, weil wir nur das eine können: komplexer werden.“ Ein irrer Move eigentlich! Als wenn man am Ende des 19. Jahrhunderts Benzinmotoren in Pferdekutschen eingebaut hätte, ohne die Pferde auszuspannen.

Uff, sehr weit ausgeholt, aber jetzt krieg ich die Kurve. Stell dir vor, wir Werbefilmer hätten vor 20 Jahren angesichts der digitalen Revolution dasselbe gemacht, nämlich den Kunden jahrelang erklärt, man müsse weiterhin auf Film, aber eben parallel alles auch digital drehen. Und das koste halt leider so Einiges mehr, aber was soll man machen: Fortschritt halt, Schulterzucken… Ganz so irre waren wir dann doch nicht. Aber wir haben uns jahrelang mit Klauen und Zähnen an das wirklich hochkomplexe analoge Verfahren geklammert, und uns war keine noch so weit hergeholte kreative Begründung zu doof dafür.

Ich hab neulich mal versucht, meinen Kids zu erklären, was wir da früher veranstaltet haben, ich mußte selber lachen dabei: „Okay, da gibt es dieses beschichtete, lichtempfindliche  Material, das mithilfe eines Motors durch die Kamera durchgezogen wird; das wird belichtet, anschließend chemisch behandelt, um es zu entwickeln und DANN erst haben wir es digitalisiert, um damit weiterarbeiten zu können.“ Erwartbar große Augen, berechtigte Gegenfrage: „Warum habt ihr denn nicht gleich digitale Kameras benutzt?“

In dieser Umstiegsphase konnte man tatsächlich die zwei entgegengesetzten attitudes beobachten: Die einen, die sich an den gelernten aufwendigen Prozess geklammert haben „Neeeein! Das ist ein Beauty Film! Den MÜSSEN wir analog drehen!!!“ und die anderen, die sich mit Ganzkörpereinsatz auf die Chancen der neuen Technik geschmissen haben. Legendär immer noch Roberto Rodriguez in der Sache, FILM IS DEAD, der sich als rebel without a crew in die Industrie gedrängelt hat vor allem, indem er sich zu hundert Prozent auf Digital geworfen hat. Ich bin gespannt, wann denn die ganzen Jungkreativen, die jetzt alle UNBEDINGT auf Film drehen müssen, weil das so authentisch/analog/grainy/haptisch (setze hier gern selbst ein Kreativ-Sales-Wort ein) ist, die Nase voll haben werden von dem ganzen Gehampel und wieder zur Alexa greifen, aber hey, was weiß denn ich schon: Ich bin ja mehr so der Excel-Typ.

Und was können wir jetzt denn der Autoindustrie für heiße Tips geben?

  1. Fürchtet euch nicht.
  2. Auch wenn das Innenleben nicht mehr dasselbe ist, das Herz, der technische Kern: die Leute wollen weiterhin Autos haben, und es ist ihnen am Ende egal, wie die angetrieben werden.
  3. Wenn ihr es schlau anstellt, dann werden die Komplexitätsreduktionen beim Antrieb nicht in niedrigere Preise und Umsätze übersetzt; ihr müsst halt diversen Krempel drumherum erfinden & dranflanschen. Wir haben ja auch diverse Extraleistungen entwickelt – „mehr gedrehtes Material, aus dem man Alternativen schneiden und 230 SoMe Edits generieren kann; Viel mehr High Speed? Kein Problem! Dailies abends schon hochladen oder gar parallel am Set schneiden, easy!“ – Das könnt ihr auch.
  4. Damit ist dann auch die Sorge dahin, dass ab jetzt Filme nur noch von einer Person auf dem iPhone gedreht werden oder daß eure Kernkompetenz von Bosch übernommen wird. Unsere Kernkompetenz war ja nie „Film belichten“, sondern Filme machen. Eure Kernkompetenz ist nicht „Benzin verbrennen“, sondern Autos bauen.

**Tesla ist besonders spannend in diesem Zusammenhang: natürlich könnte man jetzt wie ein paar chinesische Hersteller die gesunkene Komplexität in einen kleineren Preis übersetzen und Autos so billig machen wie möglich, weil sie keinen komplexen = teuren Verbrenner-Antriebsstrang mehr brauchen. Das gibt es ja auch. Tesla ist aber augenscheinlich den entgegengesetzten Weg gegangen: die haben jede Menge neuer Leistungen hinzuaddiert (Rundherum Kameras, Autopilot, Softwareupdates über’s Netz etc.), um den Gesamtpreis oben zu halten; damit haben sie die Preisersparnis durch Komplexitätssenkung aufgefangen und sich für weitere Eigenleistungen in die Tasche gesteckt.

Und wann habt ihr den letzten TVC von TESLA gesehen? Hmmm…. Wartet mal… Gar nicht? Das liegt daran, dass Tesla keine Bewegtbildwerbung machen. Die sagenwirmal 5% des Kaufpreises, die andere Hersteller für Werbung rausblasen, behalten sie einfach selbst. Nochmal: PANIKBUTTON DRÜCKEN JETZT! Aber das ist ein anderes Thema.

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